If Time Is Still Alive – Listening Session
Ultra-red zusammen mit Teilnehmer*innen aus Graz
März 2021
Dauer: 30 Minuten
Szene:
Drei Tische*, die mit Papier für Notizen bedeckt sind, befinden sich unter einer Sound Shower, welche von der Decke des Ausstellungsraums abgehangen ist. An jedem der Tische steht ein Stuhl und ein Markierstift liegt an jedem Platz. An jedem der Tische steht ein Stuhl und ein Markierstift liegt an jedem Platz. Neben den Tischen ist ein Flipchart aufgestellt, auf dem die voll- beschriebenen Notizblätter gezeigt werden. Eine vorher aufgenommene Listening Session wird alle 45 Minuten über die Sound Shower abgespielt. Diese Listening Session besteht aus Klangob- jekten, die im Laufe einer gemeinsamen Untersuchung aufgezeichnet wurden, im Rahmen derer die Teilnehmer*innen der Frage Wie klingt das gute Leben und die Stadt? über mehrere Monate nachgegangen sind. Um Vertrautheit zu ermöglichen und ein bewusstes kollektives Zuhören zu fördern, richtet die Sound Shower den Ton direkt auf den Raum zwischen den drei Tischen. Anderweitig steht die Installation in Relation zum restlichen Ausstellungsraum und der umgeben- den Geräuschkulisse.
Beginn
I.
Die Teilnehmer*innen nehmen an einem der drei Tische Platz. Um sich dem Zuhören gänzlich widmen zu können, werden die Teilnehmer*innen gebeten, während des gesamten Verlaufs still zu sein. Dieses Protokoll wird die Teilnehmer*innen durch den Ablauf der Listening Session leiten. Zu Beginn sind zwei Minuten der Stille für das Lesen dieses Protokolls vorgesehen.
II.
Nach zwei Minuten beginnt die Tonwiedergabe. Die Stimme eines Moderators/einer Moderatorin kündigt das erste Klangobjekt an:
We will now hear sound object number 1 / Wir hören jetzt Klangobjekt Nr. 1.
[ Tonwiedergabe – Klangobjekt Nr. I]
Das erste Klangobjekt ertönt. Während der Wiedergabe aller Klangobjekte sind die Teilnehmer*innen gebeten, still und reglos zuzuhören.
III.
Am Ende des ersten Klangobjekts stellt der Moderator/die Moderatorin die Frage:
What did you hear? / Was habt ihr gehört?
Ab jetzt haben die Teilnehmer*innen genau eine Minute, um ihre Reflexionen zum Klangobjekt auf dem vor ihnen auf dem Tisch liegenden Papier zu notieren. Nach Ablauf dieser Minute fordert die Stimme des Moderators/der Moderatorin mit dem Wort Time die Teilnehmer*innen auf, das Schreiben zu beenden.
Nach Ablauf dieser Minute fordert die Stimme des Moderators/der Moderatorin mit dem Wort Time die Teilnehmer*innen auf, das Schreiben zu beenden.
Kurz darauf kündigt der nächste Moderator/die nächste Moderatorin das darauffolgende Klangobjekt in der Sprache seiner/ihrer Wahl an. Der Vorgang wiederholt sich so lange, bis alle zwölf Klangobjekte abgespielt worden sind.
Nachdem alle Klangobjekte angehört wurden, entscheiden die Teilnehmer*innen unter sich, wie sie die verbleibenden 30 Minuten gestalten möchten: Man könnte mit den anderen Zuhörer*innen in Stille verweilen; sich um die Tische bewegen und die Notizen der Mithörer*innen sowie die auf dem Flipchart präsentierten Papiere durchlesen; das Gehörte besprechen oder darüber reflektieren, wie dieser Prozess des Zuhörens anderweitig aktiv eingesetzt werden könnte …
IV.
Bevor sie den Raum des Hörens verlassen, hängen alle Teilnehmer*innen ihre Notizen auf das Flipchart.
Ende
* Für diese Listening Session werden aufgrund der Corona-Maßnahmen nur drei Teilnehmer*innenplätze zur Verfügung gestellt. Vorzugsweise wäre eine gemeinschaftlichere Konfiguration vorgesehen. Wir bitten daher während der gesamten Listening Session um räumliche Distanzierung. Die Klangobjekte werden von den Mitgliedern des Untersuchungsteams präsentiert. Aus Sicherheitsgründen fand diese Arbeit auf Distanz zwischen England und Graz statt. Die unterschiedliche Tonqualität spiegelt die materiellen Bedingungen wider, unter denen die Untersuchung stattgefunden hat.
Time
Die Teilnehmer*innen versammeln sich für eine Listening Session um einen Tisch. Auf dem Tisch liegt ein Protokoll. Dieses Protokoll regelt den Ablauf der Listening Session.
Während der Listening Session sind die Teilnehmer*innen dazu angewiesen, mehrere Klangobjekte anzuhören. Jedes Mal, nachdem ein Klangobjekt abgespielt wurde, werden die Teilnehmer*innen gefragt: Was habt ihr gehört? Die Teilnehmer*innen notieren ihre Höreindrücke auf einem auf dem Tisch, um den sie versammelt sind, ausgebreiteten Flipchart-Papier. Schließlich hören die Teilnehmer*innen die Anweisung Zeit. Diese Anweisung bedeutet, dass die Zeit zum Schreiben vorüber ist und wir in der Übung fortfahren, um das nächste Klangobjekt zu hören.
Für Ultra-red ist die Anweisung Zeit gleichermaßen eine Unterlassung im Sinne des Innehaltens wie ein Akt der Wiederholung. Die Teilnehmer*innen einer Listening Session bekommen eine Minute Zeit, um aufzuschreiben, was sie gehört haben. Das Protokoll sieht vor, dass die Listening Session dann zu Ende ist, wenn alle Soundobjekte abgespielt worden sind. Die Listening Session beginnt in Stille und endet in Stille.
Die Zeitstrukturen des gemeinsamen Hörens bestimmen die variierenden Zeitlichkeiten der in der Untersuchung verwendeten Methoden und versuchen, diese zu disziplinieren und zu reorganisieren; der Sound Walk, die Listening Session, eine kollektive Aufführung von 4:33* oder eine Aufnahme. Alle diese Momente stehen für sich selbst, für einen Ort, eine Handlung, ein Gefüge von Beziehungen oder in manchen Fällen für eine Abwesenheit. Diese komplexen und widerspenstigen Zeitlichkeiten der Untersuchung sind verflüssigt, unterliegen aber gleichzeitig der Strenge und Zeitdisziplin des kollektiven Hörens. Im gemeinsamen Zuhören, in Momenten des Reflektierens, des Teilens und des Dialogs entsteht eine gemeinsame Zeit, in der die Teilnehmer*innen beginnen, ihre eigenen Themen, Fragen, Konflikte und Unsicherheiten im Verhältnis zu jenen ihrer Forschungskolleg*innen zu verstehen.
Eine Listening Session wird sowohl horizontal durchgeführt wie auch im Hinblick auf einen Horizont. Horizontal, indem jede und jeder aussprechen kann, was sie oder er gehört hat, und im Sinne eines Horizonts, indem die Praktiken des Zuhörens auf die Zukunft verweisen.
*4:33 ist eine Komposition des amerikanischen Komponisten John Cage, während der die Aufführenden für eine Zeitspanne von 4 Minuten und 33 Sekunden still und schweigend verharren. Ultra-red wenden diese Praxis häufig an, um das Augenmerk von der Klangerzeugung (oftmals die menschliche Stimme) in Richtung der Bedingung des Schweigens zu verschieben, der einzige Zustand, der ein bewusstes und vorsätzliches Zuhören ermöglicht.
ZEIT ZUM ZUHÖREN
Für If Time Is Still Alive haben Ultra-red mit Daniela Brasil zusammengearbeitet, die die Sessions in Graz mit den folgenden Teilnehmer*innen ermöglicht und moderiert hat: Elena Ulbl, Elke Kerschbaumer, Hasiba Sadiković, Holger-Christian Mädel, Karzan Noori, Jawad Akbari, Manuel Pointl, Maria Mehrvash, Mark Schweiger, Milijana Kozarević, Susanne Kolb und Svetlana Gusarova von der Natur.Werk.Stadt. Da Reise- und Versammlungsbeschränkungen eine neue Dynamik in den Prozess eingeführt haben, mussten die Bedingungen eines Workshops als ein kurzzeitiges Eintauchen in eine gemeinsame Untersuchung angepasst werden, und die Sessions wurden online und in zeitlichen Abständen im Juli, September und Oktober 2020 beziehungsweise im Februar 2021 abgehalten.
Was zu hören ist, sind die Soundobjekte, die die Teilnehmer*innen in Reaktion auf diesen Prozess in wiederkehrenden Zyklen des gemeinsamen Zuhörens, der Nachforschungen in der Stadt Graz oder zu Hause und des erneuten gemeinsamen Anhörens hergestellt haben. Das Zuhören verweist auf eine gemeinsame Frage als Ausgangspunkt einer kollektiven Untersuchung. Im Sommer 2020 haben die Teilnehmer*innen mithilfe von Sound – durch Tonaufzeichnungen – auf die einfache Frage reagiert: »Wie klingt das gute Leben«? Ausgehend von diesen Aufnahmen haben die Teilnehmer*innen spezifische Momente ausgewählt, die als Klangobjekt dienen können.
Was ist ein Klangobjekt? Das Klangobjekt ist die Grundlage einer Listening Session. Es ist ein Ausschnitt einer Klangaufzeichnung, dem sich eine Frage, ein Widerspruch, ein Begehren oder eine Aussage eingeschrieben hat. Das Klangobjekt offenbart eine für die Untersuchungsfrage relevante Intention, die der Aufzeichnung inhärent ist. Vermittelt durch den Prozess des Zuhörens vereitelt das Klangobjekt die »musikalische Zeit«, indem das lange Eintauchen ins Hören vermieden wird. Mit musikalischer Zeit meinen wir die Erwartungshaltung, die von musikalischen Konventionen wie Progression, Wiederholung, Refrain etc. vorgegeben wird. Klangobjekte sind bewusst kurz gehalten, um eine Absicht zu vermitteln und die Aufmerksamkeit zu halten – wir wollen uns nicht im Zuhören verlieren, sondern das Verfahren mit unseren Forschungskolleg*innen fortführen. Nochmals: »Was hörst du?«
Wir versuchen nicht, die Quelle dessen zu identifizieren, was wir hören. Was du hörst und wie du darauf reagierst, mag ein biografisches Zuhören oder ein Zuhören vor dem Hintergrund eines sozialen Bewusstseins zum Vorschein bringen. Es mag sein, dass du die tatsächlichen kleinen Details des Klangs hörst oder eine Erinnerung, ein Gefühl oder ein Begehren. Es gibt keine falschen Antworten auf die Frage: »Was hörst du?«
Nachdem die Klangobjekte gehört wurden und das, was gehört wurde, eingeordnet wurde, versuchen wir einmal mehr, die Untersuchung zu vertiefen. Deuten die Klangobjekte auf ein neues oder anderes Verständnis der Teilnehmer*innen von ihrem Untersuchungsgegenstand hin? Sind die Teilnehmer*innen ausgehend von diesem Verständnis in der Lage, weitere Klangobjekte herzustellen, um die Untersuchung zu vertiefen?
Warum sollte dies getan werden? Warum sollte in dieser Weise gearbeitet werden? Die Listening Sessions stellen eine Praxis dar, wie Menschen oder Gemeinschaften zusammenkommen können, um ihren Bedingungen zuzuhören, um Probleme und Spannungen zu reflektieren und einen Versuch zu unternehmen, eine Analyse zu erstellen, Veränderungen ermöglicht.
HAST DU ZEIT, UM ZUZUHÖREN?
Die Einschränkungen durch Corona haben die Möglichkeiten sowohl von Ultra-red als auch der Teilnehmer*innen beeinträchtigt, im selben Raum gemeinsam zu arbeiten. Durch die Einschränkungen des physischen Raumes taucht Zeit als Schauplatz der Auseinandersetzung auf. Was du beim Zuhören wahrnimmst, ist eine Momentaufnahme aus einer kollektiven Untersuchung, die in den Straßen von Graz und online via Zoom durchgeführt wurde. Nach vielen Listening Sessions haben die Teilnehmer*innen Themen bestimmt und auf diese Themen mit Klangobjekten reagiert. Die Themen haben reflektiert, was man unmittelbar als »Covid-Zeit« bezeichnen könnte:
/ Sich-Eingeschränkt-Fühlen
/ Wie schwer es ist, zusammenzuleben
/ Die Monotonie des Lebens
/ Sich-zu-Hause-Eingesperrt-Fühlen
/ Erzwungene Isolation und erzwungene Kollektivität
/ Wie fühlt sich Zeit in der Krise an?
Was du in diesem Raum hörst, ist eine Zusammenstellung der von den Teilnehmer*innen ausgewählten Klangobjekte sowie einige Klangobjekte aus früheren Projekten von Ultra-red. Es ist stets die Absicht von Ultra-red, die von uns verwendeten Praktiken und Methodologien zu teilen und als einfache, praktische Lernwerkzeuge für jede Person und jede Gruppe entwickeln, um deren Bedingungen durch Zuhören zu befragen. Sie verlangen nicht mehr als Zeit und die Praxis des Schweigens.
*
Ultra-red-Mitglieder Chris Jones & Elliot Perkins (GB) in Zusammenarbeit mit Daniela Brasil, Camera Austria, und Natur.Werk.Stadt. Teilnehmer*innen: Elena Ulbl, Elke Kerschbaumer, Hasiba Sadikovic, Holger-Christian Mädel, Karzan Noori, Jawad Akbari, Manuel Pointl, Maria Mehrvash, Mark Schweiger, Milijana Kozarevic, Susanne Kolb und Svetlana Gusarova.
Wie klingt das gute Leben? ist ein Projekt im Rahmen von of »Die Stadt und das gute Leben« von Camera Austria und Partner*innen für Graz Kulturjahr 2020.
www.ultrared.org / www.diestadtunddasguteleben.at / www.naturwerkstadt.at
www.camera-austria.at / www.kulturjahr2020.at
info@diestadtunddasguteleben.at / exhibitions@camera-austria.at