OFFENER BRIEF an Bürgermeister Siegfried Nagl und Vizebürgermeister Mario Eustacchio

250 Personen, Initiativen, Organisationen und Institutionen aus dem Kulturbereich und darüberhinaus haben am Montag, 15. Juni 2020 diesen offenen Brief an Bürgermeister und Vizebürgermeister geschickt, in Sorge um die überbordende Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes, der dadurch gleichzeitig den Bewohner*innen immer mehr entzogen wird bzw. andere, vor allem auch kulturelle Nutzungen, einschränkt:

 

OFFENER BRIEF
an Bürgermeister Siegfried Nagl und Vizebürgermeister Mario Eustacchio

Graz, 9. Juni 2020

Sehr geehrte Damen und Herren der Stadtregierung!

Das Vorhaben, den Grazer Karmeliterplatz und einen Teil des Lendplatzes für drei Monate in eine „Partymeile“ umzuwandeln, stellt eine Belastung an bereits bisher stark frequentierten Plätzen dar. Die während der Corona-Krise besonders betroffene Nachtgastronomie zu unterstützen ist prinzipiell zu begrüßen. In seiner Konzeption erachten wir dieses Festival jedoch als unverhältnismäßig. [Vgl. die Berichterstattung im Grazer vom 31.05.2020, der Kronen Zeitung vom 31.05.2020, https://www.krone.at/2164116 und in der Kleinen Zeitung vom 04.06.2020].

Die Plätze und Parks einer Stadt, ihre Straßen und Gassen und ihre Wasserflächen, gehören zu den zentralen Räumen, in denen Stadtbürger*innen einander begegnen und ihr gemeinschaftliches Leben gestalten können. Wie wichtig diese öffentlichen Räume sind, hat sich zuletzt während der Einschränkungen durch die Corona- Pandemie gezeigt. Für Kinder, Jugendliche und Erwachsene sowie Menschen fortgeschrittenen Alters, aber vor allem für diejenigen, die sozial und ökonomisch schlechter gestellt sind, stellt der öffentliche Raum – besonders in Krisenzeiten, aber auch im Alltag – einen unverzichtbaren Lebens- und Aufenthaltsraum dar und ist damit eine essentielle städtische Infrastruktur. Deswegen ist ein achtsamer und bewusster Umgang mit diesem Stadtraum notwendig. Konflikte um die Nutzung dieses Raums gehören zum Alltag einer Stadt. Die gemeinsame Lösung dieser Nutzungskonflikte und die faire Verteilung von Nutzungsräumen und -zeiten werden damit zu den zentralen Herausforderungen eines kommunalen demokratischen Prozesses.

Über die letzten Jahre hat die Bespielung öffentlicher Räume in Graz gefühlsmäßig stark zugenommen. Dabei wird von einer „Eventisierung“ der Stadt gesprochen. Gleichzeitig wird es für kleinere Nachbarschafts- und Kulturinitiativen zunehmend schwieriger Nutzungsbewilligungen zu erhalten. Initiativen im Stadtteil, Lokale vor Ort und die öffentlichen Plätze sind es jedoch, die einen Mehrwert für die Bewohner*innen darstellen und zum typischen Flair beitragen.

Deswegen hat die Entscheidung, über die Sommermonate am Karmeliterplatz sowie am Lendplatz eine „Partyzone“ mit Eintritt zu installieren, bei vielen Menschen vor Ort zu Unmut geführt – nicht zuletzt da viele Bewohner*innen und Gewerbetreibende rund um diese Plätze aus den Medien von diesem Vorhaben erfuhren.

Nun sah sich eine Gruppe von Anrainer*innen des Karmeliter- und des Lendplatzes, Gastronom*innen aus der Nachbarschaft, wie auch von der „Eventisierung“ betroffene Anrainer*innen anderer Stadtteile (Grazer Messe, Jakominiviertel) sowie Stadtteilaktivist*innen und Bürger*innen aus verschiedenen Teilen der Stadt zur Formulierung dieses „Offenen Briefs“ veranlasst.

Gegen das geplante Festival im Konkreten, sowie gegen die massive Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes in Graz im Allgemeinen, legen wir hiermit unseren Protest ein.

Wir sprechen uns ausdrücklich für eine lebendige Stadt aus, die eine Vielfalt an Nutzungen und Veranstaltungen zulässt. Wir befürworten Kunst- und Kulturprojekte im öffentlichen Raum, welche hinsichtlich ihrer Dimensionierung angemessen und niederschwellig erlebbar sind. Wir erklären uns ebenfalls solidarisch mit all den Unternehmen, deren nachhaltiges Wirtschaften durch die Coronakrise existenziell bedroht ist. Aber wir protestieren entschieden gegen die zunehmende Vereinnahmung des öffentlichen Raums durch überschießend kommerzielle Events.

Mit der begleitenden Unterschriftensammlung haben wir drei Forderungen formuliert, welche wir im Rahmen dieses offenen Briefes an die Stadtregierung und den Gemeinderat der Stadt Graz, in ihrer exekutiven und legislativen Zuständigkeit, adressieren:

1. Eine Zurücknahme des Vorhabens bzw. Auslagerung an einen Ort, wo es keine Beeinträchtigung von Anrainer*innen gibt: Sowohl am Karmeliterplatz als auch am Lendplatz haben „Events“ über die letzten Jahre stark zugenommen. Eine belebte Stadt ist notwendig. Ab einem bestimmen Niveau ist jedoch so etwas wie ein „Kipppunkt“ erreicht. Anrainer*innen wurden nicht informiert und die Gastronomie vor Ort nicht eingebunden. Dies ist kein verantwortungsvoller Umgang mit unserem Stadtraum und den Menschen vor Ort!

2. Schaffung eines Kriterienkatalogs zur Nutzung des öffentlichen Raums mit der Einsetzung eines Beirats unterschiedlicher Interessensvertreter*innen: Über eine Bestandsaufnahme und künftiges Monitoring wird ein Überblick geschaffen. Darauf aufbauend ist ein Kriterienkatalog zu erstellen, um eine Basis zur Beurteilung künftiger Aktivitäten zu schaffen. Ein Beirat, bestehend aus Zivilgesellschaft, Kunst und Kultur, Wirtschaft/Gastronomie und Wissenschaft, sollte für die entscheidungszuständigen Behörden unterstützend tätig sein.

3. Ausgewogene Nutzungsmöglichkeiten des öffentlichen Raums für unterschiedliche Gesellschaftsgruppen anstatt einer stark zunehmenden „Eventisierung“ des Stadtraums: Öffentlicher Raum ist ein knappes Gut. Daher ist ein sensibler Umgang notwendig, damit dieser allen Menschen zur Verfügung steht und Nutzungskonflikte bestmöglich vermieden werden können.